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Stern

Auftritt in Wien: Schröder trifft Orban: Hier hat die Ukraine den Krieg schon verloren

Gerhard Schröder bei einem Auftritt in Wien




Es ist wie in einer Parallelwelt: In Wien treffen sich Gerhard Schröder und Viktor Orbán zu einem Gespräch über Russland und Europa. Über einen Abend mit fatalen Momenten.Während das Publikum in die Wiener Sofiensäle strömt, huscht das Ehepaar Schröder kurz auf eine der Balkonlogen und bestaunt den Andrang drunten im Parkett. Derlei Zuspruch ist man nicht mehr gewöhnt. So-yeon Schröder-Kim lässt den greis und grau wirkenden Altkanzler für eines ihrer Social Media-Fotos am Balkongitter posieren. Er tut wie ihm geheißen, der Instagram-Filter wird es später richten. DebatteWas an diesem Nachmittag geschieht, ist bemerkenswert. Der deutsche Altkanzler hat durch sein renitentes Beharren auf der Freundschaft zu Russlands Diktator Wladimir Putin sein Lebenswerk riskiert. Er war seinem Land und besonders den Sozialdemokraten fremd geworden. Und nun, in dem Moment, da ein neuer SPD-Generalsekretär die unverhoffte Umarmung wagt, ihn ausdrücklich zum Teil jener Partei erklärt, die ihn eben noch loswerden wollte, hockt er sich in Wien auf ein Podium und kumpelt öffentlich mit Viktor Orbán, dem demokratiepolitischen Gottseibeiuns Europas. Das Verlangen des 80-jährigen Gerhard Schröder nach Harmonie war nie stark ausgeprägt, inzwischen muss es wohl verkümmert sein. Hier geht es um die WeltordnungUm es vorwegzunehmen: Schröder wird an diesem Abend kein Wort zu Matthias Miersch und seinem Verhältnis zur SPD verlieren. Das scheinen für ihn nur noch lokalpolitische Sperenzchen. Heute geht es um nichts Geringeres als die Zukunft Europas, des Westens, der Welt. Der Konflikt, ob Schröder mit seinen Ansichten noch statthaft sei, existiert hier unter all den Rechten, Neokonservativen und marktradikalen Hofratswitwen nicht. Eingeladen hat der rechtskonservative Verleger und Politiker Roger Köppel, der auch moderiert. Das Motto des Abends lautet “Frieden für Europa”. Und schnell wird klar, wie die Übersetzung dieses Slogans lauten muss: Kapitulation vor Russland.Neuer InhaltIm Publikum sitzen neben Frau Schröder-Kim schillernde Figuren wie der FPÖ-Politiker Harald Vilimsky, der im Europaparlament als Stellvertreter die neue Fraktion “Patrioten für Europa” anführt, Russlands Botschafter in Wien Dmitri Ljubinski, die 84-Jährige schweizerisch-russische Hotelmillionärin Ljuba Manz-Lurje sowie ein älterer Herr mit Ray Ban-Brille und “Make Amerika Great Again”-Mütze. Es fühlt sich an, als wäre man in einem Paralleluniversum gelandet. In einer alternativen Realität, in der man noch ungeschoren Pelzmantel tragen darf, es als “Unglück” gilt, dass Donald Trump 2020 die Wahlen verloren hat, und in der die Ukraine irgendwie Schuld an diesem Krieg zu tragen scheint. Wolodymyr Selenskyj habe schließlich zu verantworten, dass Angehörige der russischen Sprachminderheit “ihre Rentenanträge auf Ukrainisch ausfüllen müssen”, so Schröder. Tja, was bleibt einem da anderes übrig, als einzumarschieren.Für die Menschen im Saal ist Trump schon PräsidentDas Bühnengespräch beginnt, wie es enden wird, in tosendem Applaus. Viktor Orbán ist in dieser Welt kein irrlichternder Autokrat, der seine Funktion als momentaner Ratsvorsitzender der Europäischen Union, die ihm turnusmäßig zugefallen ist, zur schamlosen Selbstinszenierung nützt. Hier ist er Anführer eines neuen Europas, Bindeglied zu einer Weltordnung, die mit dem neuerlichen Sieg Donald Trumps besiegelt sein könnte. “Ich habe heute Nachmittag mit Präsident Trump telefoniert”, rühmt sich Orbán, und die Menschen nicken einander ergriffen zu. “Ich wage es kaum zu sagen, aber der einzige, der bisher zu einer friedlichen Lösung beigetragen hat, ist Donald Trump”, sagt auch Gerhard Schröder. Sein Nachsatz “… dass ich ihn noch einmal loben würde, habe ich selbst nicht geglaubt …” geht bereits unter Beifall und fröhlichem Gelächter unter.Echte Männer vom alten SchlagHier sitzen zwei Männer, die aus ähnlichem Holz geschnitzt sind. Hemdsärmelige Macher-Typen, die wissen, wie die Welt funktioniert. Man kennt sich noch aus alten Zeiten, eine Fotografie, die über dem Podium projiziert wird, zeigt den damaligen Bundeskanzler mit dem jungen Ministerpräsidenten während dessen erster Amtszeit Anfang der Nullerjahre. Schröder erinnert sich an das köstliche Gulasch, von dem es damals reichlich gegeben habe und das gute Bier in Budapest. Und schnell hat man die grundlegende Gemeinsamkeit ausgemacht: die Lust am Gegenwind. “Ich habe durchaus Menschen, die mich liebhaben – meine Frau, fünf Kinder und viele Enkelkinder”, sagt der 61-jährige Orbán. Das muss wohl reichen. Er sei im Gegenwind geboren, ein Mann des Sturms.Nun also zu Putin, zur Ukraine, zum Krieg und wie er schnellstmöglich beendet werden kann. “Ich glaube schon, dass man nachweisen kann, dass er keineswegs nur Kriegsherr sein will”, sagt Schröder über seinen Freund im Kreml. “Sondern dass er sich Gedanken macht, wie man diesen Krieg beenden könnte.” Er sei persönlich involviert gewesen, als Selenskyj zu Beginn des Kriegs einen Friedensvorstoß wagen wollte. Man sei sogar schon einmal vor einer Einigung gestanden, fügt Orbán raunend hinzu. Doch der damalige Ministerpräsident des Vereinigten Königreichs habe diese verhindert. Es ist spannend, dieser Erzählung zu lauschen, in der Putin nach und nach als verhinderter Friedensfürst gezeichnet wird. Und irgendwann spricht es Ungarns Regierungschef klar aus: “Dieser Krieg ist verloren.” Es sei “eine traurige Geschichte, dass Europa nicht auf der Seite des Friedens stehen will”, er habe auch deshalb “keine Hoffnung für Europa”, das wie verflucht darauf aus sei, Russland zu besiegen. “Jeder, der Frieden will, wird als demokratiefeindlich beschimpft und zur Seite geschubst”, behauptet er. Den deutschen Kanzler wie den französischen Präsidenten habe er diesbezüglich ins Gebet genommen. “Ich habe gesagt, sie sollen sich beeilen”, so Orbán. Über dem großen Meer stünden schließlich Wahlen an, und dann würden die “großen Jungs am Tisch sitzen und Europa daneben”.Gerhard Schröder als ErfüllungsgehilfeEs sind viele solcher Stellen, an denen Orbán Dinge sagt, denen ein Journalist wie Roger Köppel oder ein Sozialdemokrat, als der sich Schröder immer noch sieht, widersprechen oder zumindest nachfragen müssten. Doch das ist nicht das Wesen dieses Abends, man ist hier, um einander zuzustimmen und zu bestätigen. “Europa sollte Viktor Orbán folgen”, sagt Schröder stattdessen. Der Altkanzler sagt an diesem Nachmittag zwar nicht viel Falsches, er widersteht den Versuchen Roger Köppels, ihn zum Putin-Orakel zu erklären. Der Auftritt gerät trotzdem fatal, weil er als ehemals großer Staatsmann seine ihm hier zugedachte Aufgabe willfährig erfüllt: als Legitimation. Die Veranstaltung ist schließlich der zweite Programmpunkt im Terminkalender des ungarischen Ministerpräsidenten an diesem Tag in Wien. Am Vormittag ist Viktor Orbán bereits im Parlament gewesen, wo ihn Walter Rosenkranz empfangen hat. Der FPÖ-Politiker ist seit dem 24. Oktober Präsident des Nationalrats und damit zweithöchster Repräsentant der Republik. Über ihm rangiert nur noch Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der FPÖ-Chef Herbert Kickl, obgleich dieser die Wahlen haushoch gewonnen hatte, nicht mit der Regierungsbildung beauftragt hat. Seitdem schäumen die Rechten Österreichs. Der Empfang Orbáns durch die beiden Ober-Freiheitlichen im Hohen Haus an der Ringstraße wurden von den anderen Parteien entsprechend empört kommentiert. Und als jene Dominanz-Geste der Rechten interpretiert, als die sie mutmaßlich gemeint waren.”Es liegt etwas Neues in den Wehen”Kurz bevor der Pilot des ungarischen Militärflugzeugs anrufen lässt, dass man einen Slot zum Heimflug habe, spricht Viktor Orbán noch Klartext und gibt selten deutliche Einblicke in sein Weltbild. Es sei eine Schande, dass in zwei Weltkriegen und auch heute in Europa Christen Millionen von anderen Christen töten würden und stattdessen Menschen mit anderen Religionen einwandern. “Ist das logisch?”, fragt er das Publikum und erntet den größten Beifall in diesen 90 Minuten. Die Ära der großen politischen Führungspersönlichkeiten, wie Schröder einer gewesen sei, sei leider vorbei. Stattdessen würden Bürokraten aus Brüssel den Ton angeben, und Politiker, “die progressiv-liberale Gender-Fragen umtreiben”, sagt Orbán. “Doch das sind keine wesentlichen Fragen für die Menschen und so interpretiere ich auch das Wahlergebnis in Österreich.”  Es ist vermutlich der wesentliche Moment dieses Auftritts, als er sagt: “Es liegt etwas Neues in den Wehen, es kommt eine neue Mitte, die es in den Herzen der Menschen bereits gibt, nur die Politiker Europas wissen es noch nicht.” Der Hohn von der “Neuen Mitte”Es klingt wie Hohn, wenn Viktor Orbán den Aufstieg der Rechten und Rechtsextremen mit dem Begriff einer “Neuen Mitte” verbrämt. Schließlich hatten Gerhard Schröder und Tony Blair unter diesem Slogan 1999 ihre Vision einer modernen Sozialdemokratie verlautbart. Doch Schröder lässt es geschehen und freut sich offensichtlich, dass ihn ein amtierender Regierungschef rühmt, es brauche einen wie ihn, um das kränkelnde Deutschland zu retten. “Ich mit meinen 80 Jahren kann es jedenfalls nicht mehr”, sagt Schröder. Deutschland brauche “entschiedene Führung”. “Die Welt guckt auf uns, ob wir uns aus der gegenwärtigen Lage befreien können.” Noch einmal brandet tosender Applaus durch die Sofiensäle, Roger Köppel überreicht Schweizer Hustenbonbons, und bevor Orbán endlich zum Flughafen eilt, darf So-yeon Schröder-Kim noch ein paar Smartphone-Fotos knipsen. Dann geht es hinaus in die Dämmerung.



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Author : David Baum

Publish date : 2024-11-01 11:31:00

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